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26. Dezember 2012, 10:44 Kolumnen

Keine Apokalypse, aber tausend kleine Tode

Marco Büsch - Bald haben wir den angekündigten Weltuntergang schon um eine Woche überlebt. Wir haben sogar Weihnachten überlebt und das ganze Shoppen vorher. Ich denke, wir können uns nun schon auf die Schulter klopfen. Wobei ich am 21. gar nicht sicher war, ob es nicht doch zur Apokalypse kommen könnte.

Der Morgen verlief eigentlich ganz ruhig. Zu ruhig. Aber dann stieg in ein Tram und setzte mich in ein leeres Viererabteil. Eine Station weiter setzte sich ein Ju..., ich meine ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund neben mich. Er hatte einen Tyson-Schnitt und trug eine glänzende Jacke mit Fell an der Kapuze. Das ist ja an sich kein Problem, aber der junge Mann trank einen stinkenden Energydrink und roch selbst nach einer Parfumfabrik. Und er setzte sich so unangenehm nahe an mich heran. Nicht so leger mit einem Bein im Gang, wie man dies normalerweise tut in einem Viererabteil. Nein, wir sassen Knie an Knie und seine Jacke knisterte immer ganz laut, wenn er versuchte mühselig sein iPhone aus der Hosentasche zu grapschen. Aber es war okay. Ich musste eh nicht mehr weit fahren.

Es setzte sich an der nächsten Station eine hübsche Frau vor uns zwei jungen Spunde ins Viererabteil. Der Junge neben mir hatte sogar extra seinen Energydrink vom Boden hochgehoben und war mit seinen Beine etwas zur Seite gerückt. Sie setzte sich also hin, wir schauten verstohlen. Und dann nahm sie „50 shades of grey“ hervor. Ich schaute wieder aus dem Fenster. Wieso liest man so etwas im Tram? Was will man damit andeuten? Ich wollte und will es gar nicht wissen. Was für eine schräge Tramfahrt, komisch geht die Welt zugrunde, dachte ich so vor mich hin.

Und dann ertönte plötzlich ganz laut Ricky Martin durch das Tram. Das war es jetzt also: Das war der Weltuntergang. Ich sitze neben einem stinkenden Jugendlichen, welcher mir kaum Platz lässt, in einem Viererabteil, vis à vis sitzt eine schöne Frau, welche „50 shades of grey“ liest und es ertönt laut Ricky Martin. Wie schon Sartre konstatierte: Die Hölle, das sind die anderen. Ich gab ihm Recht. Was ich zudem bedenklich fand, dass ich wusste, dass es die Musik von Ricky Martin war. Wobei Lieder wie „Living la vida loca“ vergisst man leider sein Leben lang nicht mehr. War das nicht der Song für die WM98 oder EM2000, ich weiss es nicht mehr. Ich und auch alle anderen Tramgäste schauten verstohlen umher, wer denn der Übeltäter sein könnte und da sass er. Ganz nahe. Im Viererabteil nebenan: Ein heruntergekommener Randständiger, ein Alki, ich weiss es nicht genau. Jedenfalls waren seine Kleider zerrissen und er hielt ein Prix-Garantie-Bier in der einen Hand. In der anderen hielt er ein iPhone und liess ganz laut Ricky Martin laufen. Ich will ja jetzt keine Diskussion vom Zaun brechen, ob dieser Mann sein Geld richtig einsetzt, wenn er sich ein iPhone leisten kann, aber keine sauberen Kleider, meine Frage wäre nur: Darf der das? – Und natürlich darf er, denn in der Schweiz sagt niemand auch nur ein Wort, man straft hier mit bösen Blicken, die waren dem Mann aber egal. Nun ja, zum Glück hatte ich Kopfhörer montiert und musste/durfte bei der nächsten Station aussteigen.

Ich glaube nicht, dass wir den Weltuntergang überstanden haben. Meines Erachtens zeigt er sich in all diesen kleinen Begebenheiten, welche das Leben ein bisschen unangenehmer machen. Er schleicht sich quasi ganz langsam heran und bevor wir es merken: Peng, ist er da! Mit Pauken und Ricky Martin! Und wir fassen uns an den Kopf und denken: Wie blöde muss man sein, die Zeichen waren ja klar ersichtlich. Aber ich begegne dem schleichenden Weltuntergang mit stoischer Ruhe und warte einfach geduldig, bis er vollzogen ist. Vielleicht gucke noch einmal richtig böse oder verdrehe die Augen dabei. Ich bin Stadtzürcher, ich kann das.

Kolumne auf ronorp.ch

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