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30. Januar 2009, 19:54 Kolumnen

Student S: Reise einer Brieftasche

christian zweifel - Es sass, wie üblich zu solcher Stunde, S in der hintersten Ecke eines Cafés inmitten der Altstadt, ein Stapel Papier zur Linken, eine Tasse Kaffee zur Rechten, dazwischen der Laptop. Sudent S liebte dieses Oertchen als eine Oase der Ruhe, denn jene Stätte seiner Strebsamkeit ...

Es sass, wie üblich zu solcher Stunde, S in der hintersten Ecke eines Cafés inmitten der Altstadt, ein Stapel Papier zur Linken, eine Tasse Kaffee zur Rechten, dazwischen der Laptop. Sudent S liebte dieses Oertchen als eine Oase der Ruhe, denn jene Stätte seiner Strebsamkeit war um diese Zeit nur wenig besucht. Nichts störte hier den Arbeitenden, kein belangloses Geschwätz und keine Telefongespräche, bloss das Geschirr klapperte manchmal aus der Küche herüber. S. war mit seiner Arbeit zu sehr beschäftigt, um jenen älteren Herrn zu bemerken, welcher gerade eben durch die Tür hereintrat, sich umschaute, und kaum dass er S. gewahr, sogleich auf diesen zustürzte.„ Darf ich mich zu Ihnen setzen ? “ S., in diesem Lokal alles andere als Gesellschaft erwartend, zuckte zusammen, als er so jäh aus seiner Arbeit gerissen wurde. Noch bevor ihm eine Antwort über die Lippen kam, hatte der Alte auch schon Platz genommen und seinen Hut auf den Tisch gelegt. „ Der junge Mann ist aber fleissig – Sie studieren ? “ S. nickte gleichgültig, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. „ Sie werden mir nicht glauben, aber vor langer Zeit war ich Student wie Sie, nur meine Eltern waren arm, sehr arm sogar. Ich musste Geld verdienen, um über die Runden zu kommen. Wollen Sie wissen, wie ? “ S. machte eine abwehrende Handbewegung, doch der Alte fuhr fort: „Ich habe Zeit meines Lebens Menschen bestohlen; erst die Studenten, danach die Professoren, später die Pendler in den Trams und Bussen. Oh ja, ich darf ohne Uebertreibung sagen: Ich war einer der besten Diebe dieser Stadt. Stehlen ist Kunst, müssen Sie wissen. Alles andere ist Barbarei, ein wahrer Dieb wendet keine Gewalt an, um andere zu bestehlen; er prügelt nicht. Allerdings ist die Arbeit leichter geworden. Die Menschen leben nur noch für sich, sie merken es nicht mehr, wenn man sie bestiehlt. Sie verstehen mich ?“ Wieder machte S. eine abwehrende Handbewegung. Da endlich, sehr zu seiner Freude, erhob sich der Alte. Statt aber den Hut zu nehmen und das Café zu verlassen trat dieser, sehr zum Aerger von S., hinter diesen. „ Oh, ich sehe viele Fehler, junger Mann ! Die Mathematik scheint Ihnen nicht sonderlich gut zu bekommen !“ Das war dann doch etwas zuviel für S. Schliesslich hatte er die Gleichungen schon etliche Male durchgerechnet, was konnte da noch falsch sein ? „ Mein lieber Herr, ich kenne Sie nicht und wünsche auch nicht, Sie zu kennen. Aber dass meine Arbeit fehlerhaft sein soll, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen“, antwortete S. verächtlich. „Und nun, lassen Sie mich bitte weiterarbeiten“. „Wie Sie wünschen, junger Mann “. Der Alte setzte sich den Hut auf, tippte kurz an den Rand desselben als symbolische Geste des Abschieds, und fort war er. S. atmete erleichtert auf. Endlich konnte er wieder ungestört seiner Arbeit nachgehen. Nach einer Stunde war es soweit, die letzte Zeile geschrieben. Dreimal das Ganze nochmals durchrechnen und dann ab damit zum Professor. Alles schien richtig zu sein, doch bei der drittletzten Gleichung zeigte der Taschenrechner ein völlig anderes Ergebnis. Wieder und wieder rechnete er, immer energischer schlugen seine Finger auf die Tasten, doch das Ergebnis blieb dasselbe. Der Alte hatte also doch recht gehabt; seine Arbeit war hier fehlerhaft ! Dankbar aber verärgert zugleich korrigierte S. den peinlichen fauxpas - wer liess sich schon gerne von einem Laien belehren ? Schliesslich gab er seiner Arbeit den letzten Schliff und machte sich auf den Heimweg. Auf halber Strecke begegnete er einem Bettler. Achtlos ging S. an ihm vorüber. Da plötzlich fielen ihm die Worte des Alten wieder ein: Die Menschen leben nur noch für sich. Von schlechtem Gewissen gepackt, eilte er zurück. Doch als S. in seine Innentasche griff, fühlte sie sich seltsam leer an. Er stiess einen leisen Fluch aus. Natürlich, der Alte hatte ihn bestohlen ! Am nächsten Morgen, in aller früh, machte sich S. auf zum Polizeiposten. Doch als er an seinem Briefkasten vorbeikam, bemerkte er einen eingeschobenen Zettel. Darin stand geschrieben: „Bitte verzeihen Sie mir, ich wollte Sie nicht bestehlen. Aber der Dieb bleibt Dieb, eine solch schlechte Eigenschaft lässt einem nie mehr los. Bloss bin ich zu schwach geworden, um meinem Gewissen noch standhalten zu können. Ich habe ihre Brieftasche zurückgebracht. Leben Sie wohl.“ Tatsächlich: Sein Geldbeutel lag unversehrt im Briefkasten, nicht eine Münze fehlte.Das Leben ist zu kurz, um sich darüber zu wundern, dachte S., schloss die Haustüre und ging zur Uni.
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