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14. Mai 2010, 08:14 Kolumnen International

no. 2 - big apples from the Big Apple

meng tian - Im Sommer 1948 beschrieb E.B. White in seinem zurecht vielgelobten Essay „Here is New York“ gleich am Anfang das Gefühl von unendlichen Möglichkeiten und Dynamik in dieser Metropole: „It (New York) can destroy an individual, or it can fulfill him, depending a good deal on...

Im Sommer 1948 beschrieb E.B. White in seinem zurecht vielgelobten Essay „Here is New York“ gleich am Anfang das Gefühl von unendlichen Möglichkeiten und Dynamik in dieser Metropole: „It (New York) can destroy an individual, or it can fulfill him, depending a good deal on luck. No one should come to New York to live unless he is willing to be lucky.“

Ebenfalls im ersten Abschnitt spricht er aber auch die andere Seite dieser Besonderheit an: „On any person who desires such queer prizes, New York will bestow the gift of loneliness and the gift of privacy.“ Klingt vielleicht unvorstellbar, dass man an einem solch menschenüberfüllten Ort Privatsphäre haben kann. Aber so ist es. Damit ist jedoch nicht etwa der physische Raum gemeint, dass New Yorker viel Platz zum Wohnen oder Arbeiten hätten. Privatsphäre hat man in New York, weil die meisten von überall auf der Welt hierher gekommen und aus einem bestimmten Grund auf eigener Suche oder Mission sind. Die Stadt ist wie ein riesiger Transitgang für alle diese Suchenden. Und jeder schon länger hier weilende New Yorker lebt in gewissen Hinsichten in seiner eigenen Welt und hat einen sehr klaren, eher klein gehaltenen Kreis, in dem er sozial verkehrt. Man wird nicht wahrgenommen, wenn man es nicht möchte – egal ob man Denzel Washington, Scarlett Johansson, Beyoncé oder Urs Müller heisst. Anonymität ist hier hundertprozentig vorhanden, wenn man privat bleiben möchte.

Jemand sagte mir bei meiner Ankunft in der Stadt: „Hier wirst du oft allein sein, auch wenn du viele Menschen kennenlernst.“ Verbindlichkeit scheint tatsächlich eine europäische Tugend zu sein, was die Amerikaner aber mit ihrer Offenheit wettmachen. Es ist so einfach, mit Menschen auf Strassen, in Cafés oder wo auch immer ins Gespräch zu kommen. Viele erzählen einem auch schon in der ersten Stunde ihre ganze Lebensgeschichte und was sie momentan von ihrer Regierung oder privater Beziehung zu Hause halten. Man ist hier direkt, offenherzig, gibt viel, schon fast zu viel von sich preis von Anfang an, aber: bleibt unverbindlich. So wird die Privatsphäre auf diesen Inseln auch gewährt – inklusive die Einsamkeit, die damit kommt. Vielleicht ist dies aber auch einer der Gründe, wieso die Stadt eine derart dynamische Energie in sich trägt. Alles kann sich ständig ändern und nichts bleibt stehen. Und die, die es trotzdem tun, können es sich entweder wirklich leisten, stehenzubleiben, oder werden nächstens überfahren von Veränderungen. So schnell kann New York sein, und so brutal. Natürlich ist dieses Phänomen in vielen internationalen Grossstädten zu beobachten, aber persönlich empfinde ich die Geschwindigkeit hier als eine der schnellsten.

So erklärt sich die konstant in der Luft herumschwebende Sehnsucht nach Verbindung zu anderen Menschen oder Gruppierungen oder einfach irgendwas. Denn egal ob man Bänker oder Künstler ist, schliesslich möchte niemand am Abend allein enden. So begibt man sich also täglich trotz aller Unverbindlichkeit Begegnungen aller Art, um der Angst zu umgehen, dass man sonst etwas verpasst, und um vielleicht doch noch eine Verbindung zu irgendetwas zu finden: andere verlorenen Seelen, inspirierende Events, oder eine Erleuchtung in sich selber, wie sein Leben nun weitergehen soll.


big apples from the Big Apple Reihe: Übersicht
Meng Tian im Web: Meng-tian.com
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