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15. Februar 2011, 19:17 Kolumnen

Shots no. 22: Alles gleichzeitig

Dominik Mösching - Hässlich und schön, arm und reich, heruntergekommen und gleichzeitig voller Farbe: Die chilenische Küstenstadt Valparaíso ist ein sehr lateinamerikanisches Erlebnis.

Jorge stapft sichtlich genervt hinüber zur Plaza. Er zückt seinen iPod Touch, loggt sich ins öffentliche Gratis-WiFi-Netz ein und ruft via Skype-App die Stadtverwaltung Valparaíso an. Schon wieder sind Strom und Wasser ausgefallen, das dritte Mal in dieser Woche. WiFi statt Wasser. Ich runzle die Stirn. Während er vom desinteressierten Beamten wort- und gestenreich Taten fordert, wird er immer wieder vom Hupen eines nigelnagelneuen Porsches unterbrochen. Er gehört Maria, oder besser: wird ihr in ein paar Jahren gehören, wenn sie die Leasingraten abbezahlt haben wird. Maria will unbedingt nach Hause. Schliesslich beginnt die neuste Staffel dieser ultraheissen US-Serie, und weil das bestellte Digital-TV-Set mit HD-Recorder irgendwo am Zoll festhängt, kann sie immer noch nicht zeitversetzt fernsehen. Klar, dass ausgerechnet jetzt ein kleiner buckliger Mann mit seinen Pferden die Kreuzung blockiert. Einer seiner Mehlsäcke ist geplatzt.

Ich betrachte die leicht unruhigen Pferde und gucke hinunter in die Stadt. Die Hochhäuser der Banken und Versicherungen lassen die Türme der ehemals so stolzen katholischen Kathedralen lächerlich klein aussehen. Auch ein paar ihrer Funktionen haben die Sakralbauten des Finanzkapitalismus übernommen. Denn wer wen Mores lehrt, wird heutzutage längst hinter Spiegelfassaden statt hinter Steinmauern beantwortet. "Du Wurm", teilen die uns die Glaspaläste grimmig mit, "die Welt ist nicht rund, sondern flach wie der Bildschirm. Sie tanzt nach unseren Gesetzen, die du nie begreifen und schon gar nicht verändern wirst. Gehorche, und alles wird gut." Dieser schöne Refrain ertönt einmütig in allen globalisierten Knotenpunkten, die untereinander enger vernetzt sind als mit ihrer jeweiligen lokalen Umgebung. Zürich und Santiago de Chile reden mehr miteinander als Zürich und Muotathal, und wahrscheinlich sind sie sich auch ähnlicher. Die Pferde hier in Valparaíso schnauben, und der Bucklige sendet ein Stossgebet nach oben.

Mein Hirn durchsucht den Fundus sozialwissenschaftlicher Bonmots, der sich im Laufe des Studiums angesammelt hat. Für obige Plaza-Szene findet es die Feststellung, Globalisierung sei „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. WiFi versus Pferdefuhrwerk - passt. Es rattert weiter. „Globalisierung: weltumspannend, aber nicht flächendeckend!“ Treffer. „Globalisierung: dynamische Zentren, marginalisierte Peripherien!“ Die Pferde und Muotathal würden zustimmen. „Soziale Interaktionen: immer unabhängiger von Zeit und Raum!“ – Richtig. Es war noch nie so einfach, so schnell über so grosse Distanzen zu kommunizieren. Heute kann man sich die ganze Welt in wenigen Sekunden in die gute Stube holen.

Aber um all diese Vielfalt einigermassen verstehen zu können, müssen wir immer noch selber ran. Technik hilft da nicht weiter. Und ob wohl die Sinnzentralen hinter den Steinmauern und den Spiegelfassaden Verständnis fördern?

Lateinamerikanisch: Valparaíso, Chile.

Die UNESCO-Weltkulturerbe-Stadt ist für ihre farbenfrohen Häuserzeilen bekannt.

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Sakralbauten.

"Fernseher aus": Selber ran, um zu verstehen.

Bisherige Shots From the Road findest du hier.

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