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25. April 2011, 20:07 Kolumnen Kultur

Chercher le Bleu II

Junges Schauspielhaus - Wie die Figuren aus „Blauer als sonst“ in der zweiten Probenwoche mit der allgegenwärtigen Präsenz der anderen umgehen.

Anna Ka, Oriana, Tina, Fabian, Thomas und Steffen stehen im Kreis. Fabian geht als Erster in die Mitte, schliesst die Augen und lässt sich langsam fallen. Die anderen fangen ihn auf – je nachdem auf welche Seite er kippt. Sie wechseln sich so lange ab, bis jeder einmal in der Mitte war. „Ich und die anderen“ schwebt als omnipräsenter Gedanke über ihren Köpfen. Jeder ist früher oder später im Kreis alleine und ausgestellt, wird aber aufgefangen, nie fallen gelassen. Egal wie stark sie sich dem Boden nähern, sie berühren ihn nie. Die Übung erinnert an einen Tanz der Ohnmächtigen. Wie in Zeitlupe stemmen sich die Fänger gegen die Körper der Fallenden, drücken sie langsam wieder in eine aufrechte Haltung. Das Einzige, was man hört, sind die nackten Füsse auf dem Linoleum und Madonnas Stimme im Hintergrund.

Jule sitzt auf der Rampe, ganz oben auf der Kante. Sie schaut Finn beim Training zu. Ihre Augenlieder bewegen sich nicht, sie scheint nicht zu atmen. Gespannt, neugierig und gleichzeitig herausfordernd fixiert sie ihn. Finn gibt alles, schwitzt sich nass. Sie gehen gemeinsam in eine Klasse, kennen sich aber nur aus der Distanz, haben noch nie miteinander gesprochen. Wer ist dieser Neue? Wer ist dieses Mädchen, das beim Training zuschaut? Sie weiss, dass er gut in Englisch ist. Er weiss, dass sie Julia heisst. Beim ersten Annäherungsversuch suchen sie unsicher nach Worten, nach Möglichkeiten, sich kennen zu lernen. Tausende von Fragen im Kopf, die Angst, etwas Doofes zu sagen oder peinlich zu wirken. Also überfällt Jule Finn und ist dann selbst überfordert mit der Situation. Sie stottern herum, reden über Namen und Fächer, versuchen herauszufinden, wer ihr Gegenüber ist. „Was machst du so.“ – „Verschiedenes.“ – „Ich auch.“ – „Cool.“ Ich schaue ihnen zu und bin wiedermal erstaunt, wie viele Wünsche und Unsicherheiten in einem solch wortkargen Dialog liegen können. Jedes Wort wird achtsam geformt, abgewogen und vorsichtig gesetzt. Mit Sehnsüchten überladen. Und gerade als sie ihm beweist, dass sie nur auf ihn steht und auf keinen anderen, geraten beide in eine Spirale aus Missverständnissen.

„Ich bin in dich – und du nicht – ich – weiss – verrückt“ steht mit rosa Kreide auf der Seitenwand der grossen Welle. Auf dem höchsten Punkt dieser Welle klafft jetzt ein Loch. Finn steht da, unfähig, die richtigen Worte zu finden, ihr zu beweisen, dass er es nicht so gemeint hat. Ohnmächtig, Jule und sich aus dieser Situation zu retten, schlug er immer wieder mit seinem Fuss auf das Sperrholz der Welle ein und wiederholte immer wieder: „Und du stehst da, du stehst da, du stehst da.“ Es war für beide zuviel. Für Finn wie auch für das Holz. Die Spannung hält man auch als Zuschauer kaum aus. Was zwischen Jule und Finn passiert, ist hier so stark, dass ich in ihre Gefühlswelten hinein gezogen werde. Diese körperliche Nähe zwischen Zuschauer und den Darstellern macht eine Abgrenzung von „Ich und die Anderen“ kaum möglich.

Während der gesamten Vorstellungsdauer werden immer alle vier Figuren auf der Bühne sein, es sind keine Abgänge vorgesehen. Die Figuren betreten so gegenseitig ihre Welten, hinterlassen Spuren bei den anderen. Auch wenn sie räumlich von einander entfernt sind, sind sie nie wirklich weg. Sondern immer präsent.

Fortsetzung folgt nächste Woche...

Foto: Leseprobe, Februar 2011, Anna Ka, Fabian, Thomas und Oriana

Von Maja Bagat

Maja Bagat, geboren 1985, ist Dramaturgiepraktikantin am Jungen Schauspielhaus Zürich und begleitet die Produktion "Blauer als sonst". Sie studiert in Basel Germanistik und in Bern Theaterwissenschaft.

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