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10. Mai 2011, 15:41 Kolumnen

Shots no. 26: Ganz dicht

Dominik Mösching - Lädelisterben? Nicht in Buenos Aires. Eine Wahnsinnsvielfalt an Klein- und Kleinstgeschäften macht die Kapitale zur Stadt der kurzen Wege. Nur Zeit muss man haben, denn beim Bedienen lassen die sich nicht aus der Ruhe bringen.

Früchte und Gemüse an jeder Ecke.

Neulich im Supermarkt. Vor mir stehen drei Kunden, nach mir etwa fünfzehn. Im entspannten Fünfsekundenrhythmus piept das Scangerät der Kassiererin. Mit Musse verteilt sie eine Milch, zwei Pack Güezi, die hier Galletitas heissen, ein paar Früchte und ein halbes Kilo Schinken auf drei Plastiksäckli, zieht in aufreizender Langsamkeit die Kreditkarte des Kunden durch den Leser und legt den Beleg korrekt in einem umgenutzten Schuhkarton ab. Die Leute warten seelenruhig, bis sie dran sind. Das überrascht angesichts des Temperaments, das die Argentinier normalerweise an den Tag legen. Doch beim Schlange stehen zeigen sie neben der nonchalanten Informalität, dem grossspurig-lauten Individualismus und dem mediterran anmutenden Hadern mit Gott und der Welt einen weiteren Aspekt ihrer Mentalität: den schulterzuckenden Fatalismus. Es dauert, so lange es dauert. Esperar, das heisst nicht zufällig "warten" und "hoffen" gleichzeitig.

Man steht an im Supermarkt. Man steht an an der Bushaltestelle. Man steht an in der Post, bei den Behörden und auf der Bank. Wenn man Glück hat, verbringt man die zwei Stunden sitzend, bis die Nummer des eigenen Turnos vorne auf dem Display erscheint. Ich war im öffentlichen Spital - Routinegeschichte - und es gab für die Wartenden nur fünf Sitze. Drei davon waren kaputt. Hundertachtundvierzig von hundertfünfzig Leuten standen. Und als ich ans Festival del Otoño ging, fragte ich mich, wodurch sich die hiesigen musikalischen Grossanlässe wohl von ihren Pendants in Europa unterscheiden. Genau: Man steht so richtig an. Es hatte nur einen Bierstand, weshalb man sein Festivalprogramm halt rund um die Nachschubwartezeiten herum organisierte. Aber dann, irgendwann, akzeptiert man es. Überwindet man den inneren Europäer mit seinem Pünktlichkeits- und Effizienzwahn. Biegt auch auf den entspannten Pfad des Fatalismus ein. So kommen die Lateinamerikabesucher ja immer nach Hause. Nun, noch warte ich auf die Erlösung. Das dauert eben, so lange es dauert.

Und ganz so schlimm ist es ja dann natürlich auch nicht. Denn etwas entschädigt ganz beträchtlich für die bonarensische Wartekultur: Die unschlagbare Dichte. Es gibt kaum etwas, das man innerhalb von drei Quadras oder fünf Minuten zu Fuss nicht finden würde. Bei einem Testgang rund um den Block erspähte ich Bäckereien, Feinkostläden und Apotheken, eine Druckerei und zwei Papeterien, drei Coiffeure und ein Unterwäschegeschäft, je einen Eisenwaren-, Elektro-, Sanitär- und Lederladen, einen Schlüsseldienst und ein Locutorio für Internet und Anrufe, einen Kleinmöbelschreiner, einen Tierfutterspezialist, eine Metzgerei und die Granja für Biowaren, eine Quartierbiblio- und eine Videothek, einen Autoersatzteilhändler, ein kleines Fitnesscenter sowie diverse Pizza- und Empanada-Take Aways. Die Kreuzungen werden gesäumt von Eckcafés, Restaurants, Gemüseläden und Blumenständen, und wenn man im vom Chinesen geführten Supermarkt/Krämerladen nicht fündig wird, hat es einen Block weiter einen grossen Carrefour. Die Quartiersymbole schlechthin habe ich noch gar nicht erwähnt. Alle fünfzig Meter steht ein Kiosk mit einem wild wuchernden Angebot und dem matetrinkenden Inhaber auf dem Plastikstuhl am Strassenrand. Nur eines findet man bei all den Dienstleistungen, die von Menschen erbracht werden, nicht: Automaten.

Angesichts zehntausend Kiosken in der Stadt und einem Laden auf sage und schreibe zwanzig Einwohnern überrascht es nicht, dass Buenos Aires überall pulsiert. Wenn das Leben aus den Strassen verschwindet, ist es jeweils bereits tiefe Nacht. Der letzte Schwatz und das letzte Glas Wein dauern eben – richtig, solange sie dauern.

Da hätte auch Nietzsche Freude: Osamas Kiosk neben Zaratustras Coiffeursalon. In Buenos Aires...
Da hätte auch Nietzsche Freude: Osamas Kiosk neben Zaratustras Coiffeursalon. In Buenos Aires...

...braucht man nicht viel mehr als eine Garage, um ein Geschäft zu eröffnen (hier: Antiquitätenladen). Und wenn der Partner über einen...
...braucht man nicht viel mehr als eine Garage, um ein Geschäft zu eröffnen (hier: Antiquitätenladen). Und wenn der Partner über einen...

...ganz anderen Hintergrund verfügt? Kein Problem! Schliesslich gibt es auch kombinierte Augenarzt/Tierarzt-Praxen.
...ganz anderen Hintergrund verfügt? Kein Problem! Schliesslich gibt es auch kombinierte Augenarzt/Tierarzt-Praxen.

Der letzte Drink dauert, solange er dauert.
Der letzte Drink dauert, solange er dauert.

Bisherige Shots From the Road findest du hier.

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