Magazin durchsuchen

Neuste Blogs

12. Januar 2012, 00:00 Kultur Interview Movie

Werner Herzog im Interview

Gregor Schenker - Heute kommt Werner Herzogs neuer Film "Die Höhle der vergessenen Träume" ins Kino. Students.ch hat mit dem legendären Regisseur gesprochen und einige interessante Dinge erfahren.

Werner Herzogs Dokumentarfilm Die Höhle der vergessenen Träume zeigt dem Publikum die Chauvet-Höhle in Südfrankreich, die die ältesten Malereien der Welt enthält – und das in 3-D! Ein faszinierendes Werk, das in den USA Rekorde gebrochen hat.
Der Regisseur von Werken wie Aguirre – Der Zorn Gottes oder Grizzly Man weilte im letzten Oktober in Zürich und beantwortete uns einige Fragen. Er sprach über seine Faszination für Höhlenmalereien, seine Skepsis gegenüber der 3-D-Technik und über Pornofilme.


Students.ch: In ihrem Film bezeichnen Sie die Höhlenmalereien mal als eine Art Proto-Kino.

Werner Herzog: Ja, mit der nötigen Vorsicht natürlich.

Aber der Vergleich ist durchaus sinnig, denn die Höhlenmaler scheinen Wert auf die Bewegtheit ihrer Bilder gelegt zu haben: Die dynamische Linienführung, die Vervielfältigung der Konturen …

… und die Dynamik der Höhle selber. Das Drama der Höhle, der Formationen. Wenn ich von Proto-Kino rede, sage ich das mit der nötigen Vorsicht. Allerdings gibt es da zwei verschiedenen Figuren; das eine ist ein Bison, und das andere, glaub ich, ein Rentier. Das ist im vollen Lauf dargestellt und hat auf einmal acht Beine. Was eigentlich auf Bewegung hindeutet. Solche kulturellen Formeln, die 30'000 Jahre in die Tiefe der Zeit zurückreichen, tauchen auf einmal in der viel neueren Zeit wieder auf. Zum Beispiel habe ich erst vor kurzem erfahren, dass das Pferd Wotans, Sleipnir, so ausserordentlich schnell ist, dass es acht Beine hat. Also taucht in der altnordischen Mythologie auf einmal so ein Bewegungsbegriff wieder auf.
Auch andere Dinge, die wir in der Höhle sehen. Zum Beispiel der untere Teil einer nackten Frau, der von einem Bison fast umarmt wird. Im zwanzigsten Jahrhundert taucht dieses Motiv wiederholt bei Picasso auf. Le Minotaure et la femme. Der Minotaurus, der Stier, und die Frau. Insofern kann man mit sehr grosser Vorsicht und vielleicht auch genügend Humor von Proto-Kino reden.
Es gibt auch eine andere Darstellung, von einem Wollnashorn, das in sieben oder acht Phasen gezeichnet ist. Sie sehen das Horn fast wie in einer phasenweisen Fortbewegung, fast so wie bei einem Zeichentrickfilm. Einzelphasen. Das fiel mir sofort auf und ich dachte: "Da hat man wohl versucht Bewegung darzustellen". Auch ohne dass es Kino gibt.

Das hat mich auch an Comics erinnert, wo man ähnliche zeichnerische Darstellungskonventionen vorfindet. Die dann plötzlich Jahrtausende zurückführen.

Und es ist nicht nur eine bildnerische Konvention. Es gibt eben die Vorstellung, dass ein Pferd, das besonders schnell ist, halt acht Beine hat. Leider, leider wusste ich das zu der Zeit, als ich den Film machte, nicht. Sonst hätte ich sicher altnordische Mythologie zitiert.

Wie sind Sie eigentlich an das Thema herangegangen? Ich habe gelesen, Sie haben schon als Kind ein grosses Interesse an Höhlenmalereien gehabt.

Ja, das war sozusagen mein intellektuelles Erwachen – ich sag das einmal in Anführungszeichen –, mein eigenes Erwachen, das nichts zu tun hatte mit Schule, nichts zu tun hatte mit Elternhaus. Also meine erste eigene Faszination. Und die bestand für ein Buch über Höhlenmalerei, das mich vollkommen überwältigt hat. Ich sah da ein Buch in der Auslage einer Buchhandlung und musste das unbedingt haben. Woher diese plötzliche, unglaubliche Berührtheit kam, kann ich gar nicht sagen, und es ist auch schwer zu beschreiben. Jedenfalls brauchte es mehrere Monate, in denen ich als Balljunge auf Tennisplätzen arbeitete, um dieses Buch zu kaufen. Woran ich mich genau erinnere: Ich bin jede Woche mindestens einmal heimlich an dieser Buchhandlung vorbei, um nachzusehen, ob es das Buch noch gibt, und hatte immer gehofft, dass niemand anderes es kauft. Ich war wohl damals der Ansicht, dass es nur dieses eine Exemplar gibt, als wäre es ein Unikat.

Haben Sie dann später auch echte Höhlenmalereien gesehen, bevor Sie in die Chauvet-Höhle sind?

Nein, ich war vorher nie in irgendeiner Höhle, in meinem ganzen Leben. Ich kenne allerdings relativ viel Literatur. Bildbände an erster Stelle, aber auch wissenschaftliche Abhandlungen über Höhlenmalerei und überhaupt über paläolithische, neolithische Kultur. Mich hat immer der Gedanke fasziniert: Was passiert, wenn wir technische Zivilisation verlieren? Wie können wir dann überleben? Wie würde ich als Jäger und Sammler überleben können, also, ich persönlich? Ich glaube, dass ich mich nicht ganz dumm anstellen würde. Das schwirrte oft in meinem Kopf herum.

Sie waren also nie zuvor in einer Höhle?

Nachdem ich die Genehmigungen schliesslich hatte, habe ich zum Glück darauf bestanden, wenigstens eine Stunde in die Höhle hinein zu dürfen, um mir ein Bild zu machen, welche technischen Probleme es da geben wird. Ich wusste ja, dass ich extreme Beschränkungen haben werde. "Kann ich das überhaupt machen?" Ich durfte keinen Fotoapparat, nichts mit dabei haben, ich durfte nur schnell einmal durchlaufen.
Mir war sofort klar: Das muss in 3-D sein. Die Fotos, die ich gesehen hatte (es gibt zwei Bildbände), die sahen alle so aus, als wären es relativ flache Wände. Die gaben dieses Drama der Formationen nicht richtig wieder. Für mich war sofort klar, dass das in 3-D gedreht werden muss, obwohl ich immer noch ein milder Skeptiker von 3-D im Kino bin. Aber in dem Fall war es ein "Imperativ".
Das ganze Projekt hat sich massiv verschoben, eben in Richtung 3-D, was Konsequenzen hatte: Andere Kinos, eine andere Verleihstruktur und vermutlich auch ein anderes Publikum, das sich zwar 3-D-Filme anschaut, aber das sind dann Avatar oder die grossen Actionfilme. Und dann kommt auf einmal ein ganz stiller Dokumentarfilm daher, der anders gestrickt ist als das, was sie sonst in 3-D-Kinos sehen. Nicht unproblematisch, da das Publikum richtig anzusprechen. Aber das ist in den USA gut gelungen.

Dort war der Film sehr erfolgreich.

Der läuft immer noch, seit April, und ist die stille Sensation dieses Jahres. Aber ich rede natürlich nur von Dokumentarfilmen. Das USA-Publikum ist ja sehr hermetisch. Ein Film über eine französische Höhle und dazu noch über Kunst, in dem Leute Französisch reden, irgendwelche Wissenschaftler, und das ganze Ding gemacht von einem Bayern: Das interessiert eigentlich 0,00002 Prozent. Aber vom ersten Tag an war der Film überrannt. Was mir ermutigend zeigt, dass es eine natürliche Intelligenz des Publikums gibt. Sehr schön, das zu sehen.

Können Sie sich vorstellen, die 3-D-Technik auch weiterhin zu verwendet?

Ich würde es nicht ausschliessen, aber in allen Filmen, die ich davor gemacht habe, wäre es sinnlos gewesen, 3-D zu filmen. Und ich habe ja inzwischen schon wieder einen Film, der herausgekommen ist, Into the Abyss. Der handelt von einem völlig sinnlosen Verbrechen in Texas. Einer der Täter wurde hingerichtet, acht Tage nachdem ich mit ihm gefilmt habe, und der andere, der Mittäter, sitzt lebenslänglich im Gefängnis. Es wäre völlig undenkbar gewesen, das in 3-D zu machen. Das gilt auch für alle anderen Projekte von mir, die sich abzeichnen.
Zudem bin ich ein Skeptiker von 3-D aus verschiedenen Gründen. Die zwei wichtigsten kann ich Ihnen sagen. Das eine ist: Wir sehen im normalen Leben nicht voll in 3-D. Wir haben ein dominantes Auge. Wenn ich vor Ihnen sitze, sehe ich Sie im Prinzip in 2-D und der Raum hinter Ihnen wird wahrgenommen durch das andere Auge, aber nur peripher. Wenn plötzlich jemand mit dem Gewehr hinter Ihnen auf uns zu gestürmt käme, dann würde ich sofort umschalten auf Voll-3-D. Das Gehirn ist sehr selektiv, wenn Sie aber im Kino sitzen, können Sie nicht mehr selektiv sein. Sie sehen mit beiden Augen Voll-3-D. Das ist ähnlich wie bei Tonaufnahmen. Wenn wir in einem Café sitzen und wir den Strassenlärm und andere Leute neben uns haben, selektieren wir mit unserem Gehirn nur unseren Dialog. Wir verstehen uns über allen Lärm hinweg völlig klar. Wenn Sie das aber hinterher auf Tonband abspielen, können Sie kaum ein Wort verstehen. Es ist nur Lärm drauf, das Gehirn kann beim Tonbandgerät nicht mehr selektiv funktionieren.

Ja, das kennt man aus der Linguistik.

Es ist sehr seltsam, eigentlich eine tiefe Frage. Ich weiss nicht, ob das Linguistik noch klären kann, oder ob das nicht in Bereiche vorstösst, die tiefer liegen. Ich kann's nicht beantworten, aber die Frage ist natürlich sehr interessant.
Die zweite grosse Hemmschwelle, die ich bei 3-D habe, ist vielleicht einfacher zu beschreiben: Wenn Sie zum Beispiel Avatar sehen, ist das ein grosses Feuerwerk. Aber jenseits des Feuerwerkeffektes gibt es keine Tiefe. Wenn wir uns im Kino eine Liebesgeschichte anschauen, eine romantic comedy zum Beispiel, entwickeln eine zweite, eine parallele Geschichte, die nur in uns kollektiv als Publikum abläuft. Wir bangen mit, wir hoffen auf ein Happy End, über alle Hindernisse hinweg. Und auf einmal ergibt sich eine zweite, separate Realität im Zuschauer selbst. Das funktioniert aber nicht in 3-D, weil Sie nur die Lichteffekte haben. Ich habe da ein Dictum: Sie können einen Pornofilm in 3-D filmen, weil über den Effekt der Unzucht hinaus nichts da ist, aber Sie können eine Liebesgeschichte nicht in 3-D filmen.
Die Sache mit der Tonbandaufnahme, was steckt dahinter? Gibt's da eine Antwort drauf? Ich weiss es nicht. Die Antwort nur linguistisch zu suchen, ist wahrscheinlich sehr unzureichend. Das hat vermutlich mit Hirnphysiologie zu tun, die noch nicht begriffen ist. Es ist eine sehr rätselhafte Geschichte.

Auch in Ihrem Film gehen Sie ja nicht bloss wissenschaftlich, neutral-sachlich an das Thema heran.

Sonst wäre das auch gar nicht anschaubar. Ich mache ja keine wissenschaftliche Fachpublikation, ich bin ein storyteller, ein Geschichtenerzähler. Und ich schaue auch tiefer in die Menschen hinein, die sich mit dieser Höhle beschäftigen. Einer, den ich besonders mag – ein junger Archäologe, der früher im Zirkus gearbeitet hat – sagt ganz nebenbei etwas ganz Profundes. Er sagt: "Ich bin Wissenschaftler, aber ich bin auch ein menschliches Wesen." Das heisst, ich sehe die Dinge einmal ganz jenseits von Wissenschaft, auf eine ganz direkte Art und Weise. Und so versuche ich eine Darstellung der Menschen, die uns wirklich einen Einblick in die Personen selbst gibt.

Das fand ich sehr interessant an dem Film: Da spricht ein sachlicher Experte, aber plötzlich zeigen Sie das Menschliche an ihm.

Ja, ich glaube, da hat der Film den richtigen Tonfall. Und er hat auch die richtige Sehweise auf die Personen, die sich mit dieser Höhle beschäftigen.

Es gibt noch eine Frage, die ich mir gestellt habe. Diese Höhlenmalereien gehen ja 30'000 Jahre zurück. Da fragt man sich zwangsläufig: Was wird von uns in 30'000 Jahren übrig bleiben?

Ich kann Ihnen sagen, was von uns auch in 300'000 Jahren übrig bleibt, wenn wir schon längst vom Antlitz dieser Erde verschwunden sind. Zum Beispiel der Damm in Longarone, in Norditalien, wo es vor fünfzig Jahren einen unfassbaren Erdrutsch gab, der den gesamten See überschwappen liess. Es gab einen Tsunami; fünfzig Millionen Kubikmeter Wasser sind auf einmal in die Höhe geschossen, kamen die Schlucht herunter und haben Longarone ausgelöscht. Dieser Damm ist aussergewöhnlich hoch und an der Basis dreissig Meter dick. Stahlzement. Und dieser Stahlzement hat Millionen von Kubikmetern Geröll und Erdrutsch standgehalten. In 300'000 Jahren ist der immer noch da. Diese folie, la follia, dieser Irrsinn, der damals zu dieser Katastrophe geführt hat! Es gab Geologen, die darauf hingewiesen haben: "Das kann nur schief gehen."
Grosse menschliche Irrsinne, Irrsinnstaten wie dieser Damm, die bleiben. Es gibt noch verschiedene andere Objekte, von denen ich weiss, die werden uns lange überleben. In der Regel Irrsinnswerke. Wie das Bikini-Atoll: Zubetoniert. Müsste eigentlich 25'000 Jahre halten. Mindestens.
Solche Zeitabläufe sind es, die mich am meisten erstaunen. Auch in der Chauvet-Höhle. Wir wissen, ein Maler hat Rentier gemalt, aber unvollständig gelassen. Und ein anderer Maler hat es ergänzt, noch ein weiteres drübergemalt, zur Hälfte. Da liegen fünftausend Jahre dazwischen. Unvorstellbar. Wir wissen es aber ziemlich genau, weil man durch die Radiokarbon-Datierung auf ein- bis zweihundert Jahre genau sagen kann, wann das gemacht wurde. Und da staune ich eben.


Hier gibt es die Kritik zum Film.


Bilder von Ascot Elite

Kommentare
Login oder Registrieren