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25. April 2012, 08:27 Kultur students.ch Interview Movie

Ursula Meier zu ihrem neuen Film "Sister"

Raphaël Rück - Die französisch-schweizerische Regisseurin Ursula Meier ("Home") rückt mit ihrem zweiten Werk "Sister" erneut ins Rampenlicht. Sie hat sich einverstanden erklärt, für students.ch ein paar Fragen zu beantworten.

Die französisch-schweizerische Regisseurin Ursula Meier ("Home") rückt mit ihrem zweiten Werk "Sister" erneut ins Rampenlicht. Für ihren Film erhielt sie an der diesjährigen Berlinale einen Silbernen Bären, den Sonderpreis der internationalen Jury unter dem Vorsitz von Mike Leigh. Sie hat sich einverstanden erklärt, für students.ch ein paar Fragen zu ihrem Film, ihrer Arbeit und der Filmausbildung in der Schweiz zu beantworten.

Hier gehts zur Filmkritik.

students.ch: Wieso hast du zwei verschiedene Titel gewählt: Den französischen "L'enfant d'en haut" und den deutschen bzw. internationalen "Sister"?

Ursula Meier: Wir haben keinen entsprechenden Titel auf Englisch gefunden: "The Child from Above" klingt nicht gleich poetisch und doppeldeutig wie auf Französisch. Ich habe es vorgezogen, einen völlig anderen Titel zu wählen. Zuerst habe ich gezögert den Film auch für den französischsprachigen Release "Sister" zu nennen, aber ich wollte nicht, dass man meint, ich hätte ein Problem mit meiner Muttersprache [lacht]. Zudem finde ich die zwei Titel passend zur Schizophrenie der Figuren.

Besinnt man sich zurück an Home, deinem ersten abendfüllenden Film, fällt auf, dass du das Setting in "Sister" realistischer gestaltest.

Es war bei "Home" tatsächlich schwieriger, die von mir imaginierte Welt in der Realität umzusetzen. Es dauerte auch ein Jahr bis wir den Drehort in Bulgarien fanden. Alles vom Haus bis zur Autobahn musste gebaut werden. Deshalb dachte ich mir: Für meinen nächsten Film gehe ich von existierenden Landschaften aus und passe sie meinen Vorstellungen an.

Das realistisch wirkende Skigebiet steht auch im Kontrast zur stärker "konstruierten" Ebene.

Da der Zuschauer die Perspektive des Kleinen einnimmt, wollten wir die Berge möglichst ohne Pomp filmen. Man tritt eigentlich hinter die Kulissen, dringt in das "bas du haut" sozusagen. Man entdeckt eine Welt, die vielen unbekannt ist: Die Welt der Minenarbeiter, die für die Industrie des Wintertourismus arbeiten. Nur am Schluss wird die Schönheit der Alpen enthüllt. Leider ist es zu spät, der Schnee ist geschmolzen und Simon zu klein für diese Welt.

Das Rhonetal ist ein wenig trübselig im Film...

Ja, aber ich wollte es nicht unheimlich erscheinen lassen. Die Art, wie das Tal gefilmt ist, verleiht ihm was Graphisches. Der Turm kommt mir fast elegant vor. In der Bearbeitung der Farben sind zum Beispiel drei Phasen auszumachen: Weihnachten, Februar und Ostern. An Weihnachten ist alles in ein blaues Licht getaucht, was an nordische Märchen von Andersen erinnert. Man hebt wirklich von der Wirklichkeit ab.

Es ist mir aufgefallen, dass Léa Seydoux keinen westschweizer Akzent annimmt. Wieso?

Ich hatte mir vorgestellt, dass sie auch aus dem benachbarten Frankreich stammen könnte. Es gibt bekanntlich zahlreiche Franzosen in der Gegend. Ich selbst bin an einer Grenze aufgewachsen, in der Nähe von Besançon um genau zu sein und deshalb zeige ich gerne französische Grenzgänger – wie ihren Freund mit der französischen Kennleihzahl.
Die Sprache des Kleinen ist stärker regional gefärbt. Er sagt beispielsweise "septante" oder "nonante".

Wird dein Film auch in anderen Festivals als der Berlinale zu sehen sein?

Er wird in enorm vielen Festivals gezeigt werden. Zurzeit ist er in Hong Kong und am internationalen Frauenfilmfestival von Créteil zu sehen. Er ist Abschlussfilm in Buenos Aires und eröffnet ein koreanisches Festival, bei welchem ich anwesend sein werde.

Wolltest du mit diesem Film eine Diskussion über soziale Misere in Industrienationen wie der Schweiz stimulieren?

Schön, wenn es welche auslöst, doch im Grunde genommen mache ich keine Filme, damit sie Debatten auslösen. Ich glaube nicht, dass Kino dafür da ist, Botschaften zu vermitteln oder unmittelbar Personen, Tatbestände anzuprangern. Es ist vor allen Dingen eine Geschichte, die sich zwischen zwei Individuen abspielt, die sich so gut wie möglich über Wasser halten, die ein wenig verloren sind. Als die Masken fallen, wird klar, dass die Situation extrem schwierig für dieses Mädchen war, dass sie sich abgesondert haben und dass sie eine zornige Figur ist, die wahrscheinlich keine Sozialhilfe beantragen würde. Der Film bezeugt die Existenz prekärer Verhältnisse in der Schweiz – denn die gibt es! – aber hier hat man es aufgrund der Vorgeschichte mit einem besonderen Fall zu tun.

Würde unser Sozialsystem einen Fall wie diesen nicht aufdecken?

Nicht unbedingt, es gibt viele Leute, die sich nicht freiwillig melden und die ungern "betteln", weil es sehr erniedrigend ist. Natürlich ist der Film auch ein Märchen.

Hat dieses Märchenhafte etwas mit der völligen Abwesenheit von Polizei und staatlicher Autorität im Film zu tun?

Absolut, ich wollte auf keinen Fall diesen Aspekt reinbringen. Die Figuren bilden ihre eigenen Gesetze. Sie erfinden ihre Welt, ihre Utopie. Es herrscht keine Hierarchie, obwohl er zwölfjährig und sie siebenundzwanzigjährig ist. Es ist eine alternative Lebensart. Natürlich werden sie von der Realität wieder eingeholt, wie in "Home" übrigens, aber sie bleiben eben marginale, stolze Figuren.

Wie du sagst filmst du das "bas du haut", die Kehrseite der Medaille sozusagen. Etwas, das in Schweizer Filmen oft untergeht, nicht?

Ja, ich kann mich an keinen Film erinnern, in welchem eine soziale Realität nicht ohne eine gewisse Herablassung und auf so unerwartete Weise gezeigt wird. Es war auch der Wunsch, die Schweiz anders zu zeigen, auch wenn der Film metaphorischer ist als das. Als ich in Berlin war, sagte man mir, dass der Film nicht unbedingt in den Bergen, also in der Vertikalen spielen müsste, sondern auch in anderen horizontalen touristischen Regionen machbar gewesen wäre.

Was deine Einflüsse angeht: Was sollte man gesehen haben, um Ursula Meier zu "verstehen"?

Oh, gar nichts! Ich hoffe, dass der Film nichts ähnelt. Bei "Home" hat es mich gefreut, als man sagte, der Film sei ein UFO. Ich habe Mühe mit Kategorisierungen. Ich mag Themen, die borderline sind, denen kein Etikett aufgesetzt werden kann. Gerne entziehe ich mich der Norm. In Berlin verglich man mich mit den Brüder Dardenne, aber sie waren keine Inspirationsquelle für mich. Vielleicht ist uns gemeinsam, dass wir von einem spezifischen Ort ausgehen. Sie filmen bekanntlich immer die Banlieue von Lüttich und das erlaubt es ihnen, universell zu bleiben.

Zurück zu deiner Arbeit, dein Lebenszentrum ist in Brüssel, nicht wahr?

Ja, also ich stehe oft "zwischen" Orten, das heisst zwischen Brüssel, Paris und Lausanne, wo ich mit meinen Freunden und Kollegen Jean-Stéphane Bron, Lionel Baier und Frédéric Mermoud eine Produktionsfirma gegründet habe. Sie heisst "Bande à Part Films". Zusätzlich unterrichte ich auch an der ECAL (Ecole cantonale d'art Lausanne) und bin deshalb oft in der Schweiz. Wahrscheinlich hätte ich "Sister" nie gedreht, wenn ich ganzjährig hier leben würde. Wenn man drinnen steckt, ist die Umwelt weniger gut lesbar.

Du hast eine Ausbildung zur Regisseurin in Belgien absolviert. Was hältst du von den schweizerischen Ausbildungsmöglichkeiten?

Ich denke, dass sie sehr gut sind, jedenfalls was die ECAL betrifft, denn ich war noch nie an der ZHDK (Zürcher Hochschule der Künste). Die Dozenten sind wirklich ausgezeichnet und die Studenten dürfen sich glücklich schätzen. Ich hätte gerne ein derartiges Unterrichtsniveau genossen. Bei uns war es fast umgekehrt. Man musste sich die Informationen selber beschaffen.
Natürlich kann die Schweiz weniger Schulen subventionieren, die Techniker ausbilden, wie in Frankreich oder Belgien – denn entgegen landläufiger Meinung werden in Belgien sehr viele TV-Filme gedreht. Die ECAL bietet eine globalere Ausbildung an. Während ich lediglich in Regie unterrichtet wurde.

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