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10. November 2012, 00:36 Bücher Kultur

Parallelgeschichten

Annekatrin Kaps - So heisst das neue, vom Feuilleton hochgelobte Buch von Peter Nadas. Wir haben den 1724-seitigen und fast ein Kilogramm schweren Wälzer für Euch gelesen. Etwas Geduld für diese Besprechung ist empfehlenswert.

Im Berliner Tiergarten liegt eine Leiche. Der zugezogene, joggende Student Döring ist verwirrt über den Fund und rennt weg. Kommt zehn Minuten später wieder und meldet den grausigen Fund. Später erfährt er, dass der Tote beim ersten Augenschein noch gelebt hat. Nun fühlt sich der verklemmte Einzelgänger als Mörder, ringt mit sich, ob er es wirklich anzeigen soll. Dafür versetzt er auf der Durchreise nach zu Hause seine, auf ihn zum Frühstück wartende, Tante. Allein die bis ins letzte Detail gehende Beschreibung der alleinlebende, viel arbeitenden, alles habenden und dennoch frustrierten Frau lässt Nadas erzählerisches Talent sichtbar werden.

Doch es geht um mehr, eine Familiensaga in Budapest, schreckliche Kriegserlebnisse, viel Erotik und unbelebtes Leben, die Resignation nach dem niedergeschlagenen Aufstand 1956 in Ungarn, der Roman widmet sich all diesen Themen in einem breit angelegten Epos.

ein Jahrhundertroman aus Ungarn

Dabei muss man durch eine Menge Befindlichkeiten durch, viele Protagonisten pflegen ein sehr privates Leben zu ihren Geschlechtsteilen, man erfährt alles über Physis, Gerüche und Körperfunktionen. Wie gewollt der ungarische Schriftsteller diese Zumutungen geschrieben hat, ist schwer zu sagen und verlangt von den Lesern Durchhaltevermögen. Wird doch die sachliche Ebene ausgiebig bemüht, ohne jemals durch die Sinnliche emotionale Erleichterung zu schaffen.

Auch Nebencharaktären schenkt der Friedenspreisträger seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Der neue Bademeister des Lukàs-Bades hat so seine liebe Not mit dem neuen Arbeitsplatz, den nicht allzu diskreten homoerotischen Zärtlichkeiten dreier Freunde, welche sich in einem permanenten Gespräch befinden. Dass die dicke Bademeisterin in ungeniert „Jansilein“ nennt und zu direkt auf seinen Knoblauchatem anspricht, macht die Sache nicht besser. Die Parallele zum Studenten Döring ist vielleicht zaghaft, aber vorhanden.

Familenbande und verstörende Geheimnisse

Dieser hat übrigens einen Onkel, der im zweiten Weltkrieg in den Konzentrationslagern als Erfüllungsgehilfe das Gold der Häftlinge sammelte. Was als Parallele zum realen Antisemitismus in Ungarn gedacht ist. Das ist furchtbar zu lesen, aber Nàdas will nicht um Verständnis werben, eher verstehen lassen.

Ob Depression der Gesellschaft, wo die Resignation mit Händen zu greifen scheint, Regentropfen, welche man an die Scheibe schlagen zu hören, schwülstige Badedämpfe, welche man zu sehen glaubt, der Autor ist ein Meister, diese Atmosphären vorm inneren Auge aufsteigen zu lassen. Dabei hat der Leser keine einzige Figur genauer vor sich, obwohl es durchaus prägnante Beschreibungen dazu gibt. Noch lieber widmet sich Nàdas obsessiv den Gerüchen, die fast jede Szene des Buches begleiten. Nichts für zarte Gemüter, doch genial geschildert, ohne das jemals der Sprachfluss gestört wäre.

Schifffahrt im Meer der Geschichten

Auch Tempo interessiert ihn nicht, die siebzigseitige Beschreibung eines Liebesaktes zwischen Kriztōf und Gyöngér ((der Sohn der Budapester Familie hat eine sehr leidenschaftliche Geliebte) lässt mich zweifeln, ob da auch die Leser ihren Höhepunkt drin finden werden. Die Affäre der Beiden, welche in der Wohnung der Familie Demel die depressive Ruhe stört, findet sich in „Stumme Gefilde“ dem ersten Buch des Epos. Wie nichts nach dem Aufstand geschieht und was das mit den Budapestern macht, lässt sich, hier akribisch geschildert, nachlesen.

seligmachende Erinnerungen und die Kraft der Liebe

Die Bridge-Runde der vier Freundinnen, denen auch Kriztōf Mutter Erna angehört, wird selbst durch den Gin-Fiz, den die Jüdinnen trinken, nicht wesentlich belebt. Das abendliche Budapest wirkt realer als der überzeugend dargestellte Geruch der Geranien, der den süsslichen Gestank der Leichen nicht übertünchen kann und vom dem man nie genau weiss, ob er wirklich existiert. Oder eher der Erinnerung an die schrecklichen Geschehnisse geschuldet ist.

„In den Tiefen der Nacht“ erfährt Kriztōf sein Coming Out, was ihn später erkennen lässt, dass er bisexuell ist. Sonst hätte es auch mit der nächsten Liebe zur Arbeiterin Klara nicht geklappt. Für die Anderen geht es weniger glücklich aus, ihnen bleiben ihre Sehnsüchte und Erinnerungen. Nadas lässt damit weitere Personen auftreten, von denen viele tot sind. Ein Delta an Geschichten tut sich auf, in dem der Schriftsteller geschickt navigiert, ohne je das Steuerrad aus der Hand zu geben.

Die inneren Welten sind dafür real und äussert anschaulich beschrieben, wie sich die gesellschaftlichen Normen nicht mehr mit den Emotionen vereinbaren lassen, muss auch Kriztōf mit seiner grossen Liebe Klara erfahren. Das Happy End besteht in der Verweigerung des Spagats durch die beiden und beschliesst den dritten Band, welcher „Der Atem der Freiheit“ heisst.

Es wurde schon gesagt: Geduld und Durchhaltevermögen sollten die Leser aufbringen, welche sich vom Strom der Geschichte forttragen lassen wollen. Danke, dass Ihr auch diese Besprechung bis zum Ende gelesen habt!

Peter Nàdas: Parallelgeschichten, Rowohlt-Verlag, 53,90 CHF

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