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11. November 2012, 21:00 Kolumnen Politik

Das andere Amerika

Patrick Timmann - Tränenüberströmte Gesichter blicken entsetzt auf die TV-Liveübertragung. Menschen halten sich erschrocken die Hände vor den Mund, andere wirken wie betäubt, die Blicke leer. Was ist geschehen? Das konservative Amerika trauert um seinen Hoffnungsträger.

Betrachtet man die fassungslosen Mienen der Anwesenden, man könnte meinen, es handele sich um bangende Angehörige der Opfer von Sturm Sandy... wären da nicht das festliche Ambiente, die vielen blau-weiss-roten Sticker und USA-Fähnlein. Offenbar haben viele republikanische Wähler fest mit einem Sieg Romneys gerechnet, obwohl dessen Niederlage für die meisten Beobachter alles andere als unerwartet kam. Nur so kann ich mir die masslose Enttäuschung der Wahlverlierer erklären. Diese Entfremdung von der Realität ist jedoch typisch für viele konservative Wähler.

Ein bedeutender Teil der Amerikaner lebt in einer Parallelwelt. Jon Stewart, der äusserst populäre Moderator der linksliberalen Daily Show, hat diese Welt treffend „Bullshit Mountain“ getauft. Auf Bullshit Mountain herrschen andere Gesetzmässigkeiten als im restlichen Amerika. Die Bewohner von Bullshit Mountain nehmen ihre Welt durch einen Filter war: Sie sehen nur Dinge, die ihre eigene Meinung bestätigen. Tatsachen, die ihren Überzeugungen zuwiderlaufen, ignorieren sie konsequent. Dadurch entfernen sie sich mehr und mehr vom politischen und gesellschaftlichen Diskurs des übrigen Amerikas.

Der 1996 vom konservativen Medienmogul Rupert Murdoch gegründete Fernsehsender Fox News hat diese Entwicklung massgeblich mitgeprägt. Weite Bevölkerungskreise beziehen ihre Informationen ausschliesslich über diesen Sender und kommen gar nicht mehr in Kontakt mit mainstream media auf den anderen Kanälen – von seriösen Printmedien ganz zu schweigen. Rechtspopulisten wie Bill O'Reilly, Ann Coulter oder Glenn Beck und fundamentalistische Evangelikale wie Pat Robertson geben sich bei Fox News die Klinke in die Hand und verbreiten ihr rückwärtsgewandtes Weltbild. Dabei verbiegen sie Tatsachen bis zu Unkenntlichkeit, erfinden ihre eigenen „Fakten“ und schrecken auch vor dreisten Lügen nicht zurück.

Nur innerhalb dieser realitätsundurchlässigen Parallelwelt existieren noch immer Menschen, die ernsthaft glauben, Barack Obama sei Moslem, Kommunist und illegal im Amt, weil er angeblich gar nicht in den USA geboren sei. Für diese Leute verkörpern die Demokraten und ihr Präsident das Böse schlechthin und die Ursache für alle Probleme Amerikas. Mitt Romney war für sie der Reiter auf dem weissen Pferd, der Retter Amerikas, der die Nation zurück auf den Pfad der Tugend geführt hätte. Für die Einwohner von Bullshit Mountain stand fest: Mitt Romney würde die Wahl gewinnen, etwas anderes sei gar nicht vorstellbar, denn jeder Mensch, der das Herz auf dem rechten Flecken habe, müsse doch erkennen, dass Barack Obama das Land ins Verderben führe.

Als bereits am Wahlabend feststand, dass der Präsident wiedergewählt worden war, kamen die Einwohner von Bullshit Mountain zum ersten Mal seit Langem mit der ungefilterten Realität in Berührung, die sich nicht wie sonst einfach ausblenden liess. Der Traum von einem konservativen Präsidenten ist für die nächsten vier Jahre ausgeträumt.

Kristen, eine desillusionierte Romney-Anhängerin, twittert frustriert: „I'm moving to Australia, because their president is a Christian and actually supports what he says“. Anscheinend wird das Australien auf Bullshit Mountain noch immer von John Howard, dem vor fünf Jahren abgewählten, ultrakonservativen Ex-Premierminister regiert. Ich hoffe für Kristen, dass ihr noch niemand gesagt hat, wer in der realen Welt Australien regiert: Julia Gillard von der Labor Partei, eine Frau und erklärte Atheistin.

Kommentare
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Illegal_Space_Alien 21.11.2012 um 12:10
Sehr viel prägnanter, eloquenter als ich und mit Bezug zur Schweiz schreibt es Constantin Seibt: http://blog.tagesanzeiger.ch/deadline/index.php/1769/presse-demokratie-und-meinung-eine-rede-vor-den-aktionaren-und-freunden-der-basler-zeitung/