Magazin durchsuchen

Neuste Blogs

17. Juni 2013, 00:00 Bücher Kultur

1913 Der Sommer des Jahrhunderts

Annekatrin Kaps - Der Sommer als Blüte des Jahres, so poetisch beschreibt Florian Illies das Vorkriegsjahr in seinem neuen Buch. Mit einer etwas anderen Zeitrechnung lässt er dabei die Moderne das Jahrhundert einläuten und zeigt nebenbei, wie spannend Kunstgeschichte sein kann.

Hitler und Stalin gehen im Schlosspark von Schönbrunn spazieren, während der Student Ludwig Wittgenstein in Cambridge an philosophischen Betrachtungen der Logik und seinem Coming-Out arbeitet. Für das in Darmstadt entwickelte Ecstasy läuft der Patentantrag, als Picasso in Paris mit seiner neuen Geliebten Eva umzieht.

Das alles ist wirklich passiert vor hundert Jahren. Allerdings kannten sich Hitler und Stalin noch nicht, auch wenn sie sich bei ihren Spaziergängen begegnet sein könnten. Der essayhafte Roman von Florian Illies, der die Aufbruchsstimmung von Kunst, Literatur, Medizin und Philosophie 1913 einfängt, beginnt dramatisch mit Schüssen. Abgefeuert von einem Zwölfjährigen aus New Orleans, der wenig später vom Direktor einer Besserungsanstalt eine Trompete in die Hand gedrückt bekommt. Doch erst viel später soll der wilde Knabe als Louis Armstrong bekannt werden.

Monatsweise entfaltet der Kunsthistoriker ein beindruckendes Kaleidoskop von einzelnen Schicksalen als auch des gesellschaftlichen Lebens. Bunt durcheinander gewürfelt und mit viel Liebe und Humor beschrieben, stellt Illies zwischen ihnen faszinierende Querverbindungen her. Synchronoptisch wird diese Form der Gegenüberstellung verschiedenster Ereignisse in einem Zeitraum Werner Stein nennen, er wird im Dezember 1913 geboren.

Von Heinrich Kühn stammt das Titelbild – mit seinen Fotos will er das Paradies zeigen

Unbekanntere Zeitgenossen wie beispielsweise Oswald Spengler, vom Autor als Misanthrop und Soziopath beschrieben, der neben seinem Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ bereits mit dreiunddreissig Jahren an seiner Autobiografie schreibt, kommen ebenfalls zu Wort. Spenglers Grundgefühl der Angst äussert er unter anderem als: „Angst vor Weibern – sobald sie sich ausziehen.“ Der ewig kränkelnde Rilke wird vom ehemaligen Feuilletonchef der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ mit feiner Ironie bedacht, „Reiner Maria Rilke hat Schnupfen.“ lautet eine Notiz im Kapitel März.

Von unglücklicher Liebe, wie der entscheidungsunfreudige Kafka sie erlebt oder Hörigkeit, welche den Maler Kokoschka mit Alma Mahler (einer der umschwärmtesten Frauen Wiens) verbindet, erzählt Illies sensibel beobachtend. Oder fesselnd von Existenznot, welche nicht nur die bitterarme Dichterin Else Lasker-Schüler quält, bis hin zu in Frage gestellten Moralvorstellungen (Kirchner zeichnet nicht nur nahezu besessen die Aggressivität des expandierenden Berlins, sondern auch akribisch sein Dreiecksverhältnis mit den Schwestern Schilling).

Am 28. August schiesst Kaiser Franz Joseph einen Bock.

Otto Dix, bekannt für seine Gemälde im Stil der Neuen Sachlichkeit, malt 1913 fünf verschiedene Selbstbildnisse. Max Beckmann, ein anderer bedeutender Selbstporträtist notiert in sein Tagebuch: „Wie traurig und unangenehm, sich immer mit sich selbst abgeben zu müssen.“ Derartige originelle Intersexualität macht den chronologischen Essay zu einem einzigartigen Lesevergnügen.

Die Kriminalgeschichte um die geraubte Mona Lisa baut Illies geschickt in die ersten Monate ein beziehungsweise die Spannung auf. Mehrmals findet sich der Satz: „Die Mona Lisa ist noch immer spurlos verschwunden“. Im Dezember bietet ein sich als „Leonardo“ ausgebender Mann einem Kunsthändler in Florenz das Kunstwerk an. Es kommt zur Verhaftung des Diebes und einem unglaublichen Siegeszug der Gioconda auf der Rückreise in den Louvre, der sich ins kollektive Gedächtnis der Italiener einbrennen wird. Die abstruse Geschichte beschreibt der Erzähler so anschaulich, das man den schmierig wirkenden Leonardo förmlich vor sich sieht, die eher unglaubwürdigen Zeitangaben verzeiht man dem Autor dafür gern.

Warum der Maler Emil Nolde enttäuscht von der Südsee ist, was Josip Broz (der sich künftig Tito nennen wird) in Wien trieb oder was die „Frau der Welt“ ihren zu schlanken Leserinnen rät (unter Grösse 42 galten Frauen als Hungerhaken), sei hier nicht verraten. Schon gar nicht, wie das Jahr zu Ende geht. Denn ob Kunstinteressierte, Historiker oder Leseratten, das Buch ist als bereichernde Lektüre wärmstens jedermann zu empfehlen.

1913 Der Sommer des Jahrhunderts, S. Fischer Verlag, gebundene Ausgabe ab 22,80 CHF im Buchhandel

Kommentare
Login oder Registrieren