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12. August 2008, 10:57 Interview Movie

Interview mit Amor Hakkar

Gregor Schenker - La Maison Jaune (die Rezension findet sich hier) ist ein berührender und trauriger, aber auch hoffnungsvoller Film über die Boulems, eine arme algerische Bauernfamilie, die ihren ältesten Sohn verliert. Mouloud, der Vater, fährt mit seinem alten Mini-Traktor in die Stadt und ...

La Maison Jaune (die Rezension findet sich hier) ist ein berührender und trauriger, aber auch hoffnungsvoller Film über die Boulems, eine arme algerische Bauernfamilie, die ihren ältesten Sohn verliert. Mouloud, der Vater, fährt mit seinem alten Mini-Traktor in die Stadt und holt den Leichnam zur Beerdigung nach Hause; unterwegs begegnen ihm immer wieder wildfremde Leute mit Anteilnahme und Hilfsbereitschaft. Nach dem Begräbnis versuchen er und seine Töchter verzweifelt, die Mutter wieder aufzuheitern, welche für Tage in tiefe Trauer fiel. Doch weder ein gelber Hausanstrich oder ein neuer Hund können helfen…
Wir hatten die Gelegenheit, mit Amor Hakkar, dem französischen Regisseur mit algerischen Wurzen, welcher im Film auch die den Familienvater spielt, ein Gespräch zu führen.
Alle Bilder stammen von von Xenix Film.


Students.ch: Amor Hakkar, herzlichen Dank, dass sie sich für dieses Interview Zeit genommen haben. Sie haben im Plenum nach der Vorpremiere erzählt, dass sie nach dem Tod ihres Vaters dessen Leichnam zurück nach Algerien begleitet haben; die Erlebnisse, die sie auf dieser Reise hatten, hätten sie zu La Maison Jaune inspiriert. Ist das auch der Grund, weshalb Sie die Hauptrolle selber gespielt haben?

Amor Hakkar: Nein. Dazu muss ich sagen, dass ich viele Schwierigkeiten und Mühen hatte, als ich die Leiche meines Vaters zurückgebracht habe. Es gab aber auch die Menschlichkeit, die mir von all den Leuten unterwegs entgegenkam, obwohl sie mir nie zuvor begegnet sind.
Im Folgenden bin ich nach Algerien zurückgekehrt, um mein Heimatland, das ich nicht kannte, zu entdecken, um Leute zu treffen, zu wandern, mir die Berge anzusehen, die Blumen, die reisenden Frauen, die herumziehenden Männer, die spielenden Kinder, etc. Daraus haben sich die Idee und das Drehbuch zum Film ergeben.
Ich habe dabei nie daran gedacht, die Hauptrolle zu spielen. Dieser Entschluss kam schliesslich, weil es eine sehr wichtige Rolle ist, für die man die Berbersprache sprechen können muss, weil sie ein enormes Engagement erfordert, und zu guter Letzt, weil ich Angst hatte, bei der Wahl eines Schauspielers daneben zu greifen. Ich habe mehrere Castings durchgeführt, in Paris, in Algier, im Aurés-Gebirge, aber keiner der Darsteller hat mir zugesagt. Und als ich schliesslich auf dem Land jemanden traf, dem ich die Rolle anbot, wollte er nicht. Zu diesem Zeitpunkt kam ich darauf, die Rolle selbst zu übernehmen.


Sie sprachen von ihren Begegnungen mit den Menschen in Algerien. Haben Sie im Film Situationen direkt so umgesetzt, wie sie sie erlebt haben?

Nein. Der Film ist wirklich durchgehend fiktional, aber ich habe versucht, die Stimmung dieser Begegnungen einzufangen.
Ein Beispiel: Als ich den Leichnam meines Vaters in seine Heimat zurückbrachte, kamen wir um Mitternacht in ein kleines Dorf. Es war Vorschrift, sich auf dem Polizeikommissariat zu melden. Dort habe ich an die Türe geklopft, jemand kam raus und schrie: „Wer ist das? Es ist Mitternacht! Wir empfangen jetzt niemanden!“ Ich habe dann gesagt: „Verzeihen sie, aber in meinem Laster ist der Leichnam meines Vaters und ich brauche Formular und Stempel.“ Daraufhin ging er ins Büro, um den Stempel zu machen. Das hat mich beeindruckt, die Menschlichkeit angesichts dieser Zäsur im Leben. Diese Stimmung wollte ich in dem Film rüberbringen.


Wie war denn die Zusammenarbeit mit den Behörden während den Dreharbeiten? Im Film tauchen ja auch Polizisten auf, sind diese echt?

Nun, es brauchte für alles eine Bewilligung. Das Drehbuch musste dem Kulturminister zugeschickt und alle Bewilligungen bei seinen Kollegen eingeholt werden, also beim Verteidigungsminister, dem Militärminister, dem Gendarmerieminister, dem Polizeiminister, dem Gesundheitsminister, etc. Hatte man einmal die Bewilligung, lief die Sache relativ gut.
Hierzu eine Anekdote: Wir brauchten eine Bewilligung des Gesundheitsministers, um im Krankenhaus drehen zu dürfen. Im Drehbuch steht: „Leichenhalle“. Als ich mit meiner Bewilligung im Spital ankam, sagte mir dort der Direktor: „Sie haben eine Bewilligung, um in der Leichenhalle zu drehen.“ Ich sagte: „Ja, aber ich will nicht wirklich in der Leichenhalle drehen.“ „Aber ja doch, sie haben eine Bewilligung für die Leichenhalle!“ Und ich sagte: „Nein! Ich will nicht die Leichenhalle!“ Das behage mir nicht, in einer echten Leichenhalle zu drehen. „Ich will lieber einen anderen Ort im Spital.“ Und so mussten wir eine neue Bewilligung für einen anderen Ort im Krankenhaus einholen.
Was die Polizisten und die Gendarmen anbelangt: Der Chef der Gendarmerie war gegenüber unseren Wünschen sehr offen. Er gab uns die Erlaubnis, mit echten Gendarmen und ihren Fahrzeugen zu arbeiten. Die Gendarmen, die man im Film in ihrem Auto sieht, sind also echt.
Anders war es bei dem Polizisten an der Absperrung, der den trauernden Vater nachts aufhält und ihm schliesslich ein Blinklicht für den Traktor gibt. Die Polizei wollte uns nicht mehr als eine Uniform zur Verfügung stellen, einen echten Polizisten durften wir nicht nehmen.


Wenn wir grade von den echten Gendarmen gesprochen haben: Sie haben bei diesem Film durchgehend Laiendarstellern gearbeitet, abgesehen von Tounés Ait-Ali, welche die Mutter spielt. Wie war es, mit diesen zu arbeiten? Insbesondere interessiert uns Aya Hamdi, welche Alya, die älteste Tochter und Schwester des Toten, spielt und eine beachtliche Leistung zeigt.

Bei den Schauspielern ging es um das Aufbauen einer Beziehung. Das heisst, mehrere Monate vor Beginn der Dreharbeiten habe ich diese Leute mehrmals getroffen und mit ihnen geredet, was mir erlaubt hat, mit vielen von ihnen diese Beziehung aufzubauen. Das Drehen des Filmes war dann wie eine Weiterführung davon.
Mit Aya war es ein bisschen anders. Wir suchten einfach ein Kind, also veranstalteten wir Castings in Theatern, auf der Strasse, etc. Ich habe die Kinder dann jeweils darum gebeten, etwas in der Berbersprache zu singen, weil wir eines suchten, dass die Sprache beherrscht. Als ich dann Aya so singen hörte, war es für mich geradezu ein Schock. Es war eine richtiggehend märchenhafte Begegnung und es war ganz klar, dass sie die richtige für die Rolle war.
Die Dreharbeiten mit ihr sind dann aussergewöhnlich gut gelaufen. Sie ist sehr, sehr talentiert und äusserst musikalisch, vor einer Aufnahme zum Beispiel sang sie immer irgendwas und klopfte Rhythmen auf einen Hut oder auf so etwas in der Art. Sie hat dann ihre Rolle gespielt und sobald es „Schnitt!“ hiess, machte sie wieder Musik. Nun, es lief sehr gut, sie ist jemand, der sehr, sehr schnell kapiert.
Wir konnten sie nicht sofort engagieren, weil es noch viele andere Kinder gab, und ich musste vorher ihren Vater und ihre Mutter treffen. Als ich dann ihre Eltern besuchen ging, hat sie mich bereits auf der Strasse erwartet, als ich mit dem Auto ankam, und sagte: „Wollen sie jetzt ‚ja’ oder ‚nein’ sagen?“ Es war schon aussergewöhnlich und eine sehr schöne Begegnung.


Liefen die Dreharbeiten streng nach Drehbuch oder wurde auch improvisiert, gerade zusammen mit den Laiendarstellern?

Nun, bei Laiendarstellern ist nicht wichtig, dass sie einen Text auswendig können, sondern dass sie die jeweilige Situation begreifen und die Worte dann selbst finden. Sie sollen nicht dadurch behindert sein, sich daran erinnern zu müssen, was sie zu sagen haben. Sie sollen stattdessen ganz sie selbst sein. Dem Taxifahrer zum Beispiel, der im Film dem Vater, der nicht lesen kann, den Brief von den Behörden vorliest, hab ich erklärt, wie die Situation ablaufen wird. In dem Brief steht dann, dass der Sohn tot ist, und der Taxifahrer sagt in eigenen Worten: „Ah, es ist dein Sohn, dein Sohn ist tot!“ Wichtig, dass er nicht von vornherein um diesen Satz besorgt ist.
Mit verschiedenen Schauspielern war es anders, so zum Beispiel mit dem Pfleger, mit ihm konnte man anders arbeiten. Wir haben uns an die unterschiedlichen Darsteller angepasst. Das Wichtige war einfach, dabei dem Drehbuch und den Emotionen der Geschichte zu folgen.


Sprechen wir über die äusserst gelungene Filmmusik. Wie haben sie die verschiedenen Lieder und Stücke ausgewählt?

Wir waren bereits am Ende des Filmes angelangt und der Schnitt war schon recht weit fortgeschritten. Ich habe dann mit einem Komponisten aus Paris Kontakt aufgenommen. Er riet mir, dass wir uns in der kleinen Stadt, in der wir uns befanden, an die heimischen Musiker wenden. Zu diesen sind wir gegangen, haben ihnen den Film gezeigt und gesagt: „Wenn sie Interesse haben, kommen sie in 48 Stunden mit ihren Instrumenten wieder hierher und drücken sie mit der Stimme oder der Musik aus, was bestimmten Sequenzen im Film in ihnen ausgelöst haben.“ Wir haben dann die Mikros aufgestellt und tatsächlich: Die Musiker sind zurückgekommen und sagten, sie hätten dieses oder jenes Stück für uns. Wir haben die ganze Nacht hindurch Aufnahmen gemacht, jeder Musiker hat die Stücke gemacht, die er wollte, mit der Stimme, der Laute und anderen Instrumenten. Wir haben dann die Stücke ausgewählt, die zu einer bestimmten Sequenz gepasst haben. Sobald die Aufnahmen vorlagen, war es ganz einfach. Wichtig war dabei, dass die Arbeit der Musiker zusammen passt, dass es unter den Stücken einen Zusammenhalt gibt.
Wir hatten am Anfang des Filmes bei der Hochzeitsgesellschaft traditionelle Gesänge und Flötenspiele aus dem Aurés-Gebirge, oder ein Chanson am Ende, bei dem es sich eigentlich um ein französisches Wiegenlied handelt, einfach mit einem anderen Text in der Berbersprache. In den Szenen mit dem Polizisten und Blinklicht ist ein armenisches Lied zu hören, bei der Beerdigung des Sohnes ein schwarzafrikanisches und in der Stadt, als der Taxifahrer dem Vater den Weg zur Wache zeigt, klingt es ein bisschen wie bei „Easy Rider“, mit der Jazzgitarre und so. Das ist eine Mischung, die schlussendlich funktioniert hat, es hätte aber genauso gut das Gegenteil eintreten können.


Gerade das jazzige Stück ist ja eine ziemliche Überraschung.

Genau. Und besonders interessant ist, dass die musikalische Mischung unbewusst das Thema des Filmes erweitert. Auch wenn der Film in Algerien gedreht wurde, ist sein Thema ein universelles. Der Film hätte auch in China, in der Mongolei oder in Peru gedreht werden können, und die Musik ist folgerichtig eine universelle Musik.


Kommen wir von der Musik zu den äusserst beeindruckenden Bildern des Filmes. Können Sie uns etwas über die Zusammenarbeit mit dem Kameramann Nicolas Roche erzählen?

Nun, das war eine einfache Sache mit Nicolas, der grade von der Filmschule kam. Ich habe ihn getroffen, als ich mit einem Kurzfilm beschäftigt war; ich hatte diesen Jungen angerufen, den ich nicht kannte, und er sagte zu, an diesem Kurzfilm mitzuarbeiten. Ich hatte ein bisschen von seiner Arbeit gesehen und als ich dann die Idee für einen Film hatte, habe ich ihn wieder angerufen.
Auf ihn kam ich, weil ich damals Kontakt mit einem Kameramann von Lars von Trier hatte, Jean-Paul Maurice. Ich traf ihn in Paris und er sagte mir: „Gut, ich komme, aber meine Frau kommt mit mir“, und plötzlich war alles sehr kompliziert und wäre zu teuer gekommen. Ich war also etwas in Not, aber ich erinnerte mich an diesen Jungen vom Kurzfilm. Ich rief ihn an und sagte ihm, ich würde einen Film in Algerien vorbereiten, und er antwortete: „Ja, ich komme nach Algerien!“. So ist das gelaufen.
Ich konnte sehr, sehr gut mit ihm zusammenarbeiten und würde das gerne mal wiederholen. Er ist jetzt fünfundzwanzig und ein Junge, der sehr talentiert ist. Mit Nicolas war es ein bisschen wie mit Aya, der Zufall spielte eine grosse Rolle. Das sind die Leute, die den Film aufwerten.


La Maison Jaune ist ein trauriger Film, es gibt aber auch immer wieder Szenen, die einen schmunzeln lassen. War es Ihnen wichtig, dass der Film neben den tragischen Seiten des Lebens auch die heiteren zeigt?

Ja, ganz genau. Ich denke, dass ich einen traurigen Film gemacht habe, wie ich es auch von Leuten in Diskussionen gehört habe, es gibt auch welche, die sagen, der Film werde mit der Zeit fröhlicher. Das Thema, glaube ich, ist traurig, aber der Film gibt auch viel Hoffnung.


Sehr schön sind auch die Gegensätze, die sich zweigen, wenn beispielsweise die Nachricht vom Tod des Sohnes überbracht wird, als eine Hochzeitgesellschaft unterwegs ist. Oder wenn die ärmlichen Boulems den Palast des Polizeipräsidenten besuchen.

Im Alltagsleben tragen sich die Dinge so zu. Man geht die Strasse runter, sieht dort einen Mann oder eine Frau im Glück und gleich daneben eine sehr traurigen Person. Am Anfang sieht man dann auch dieses kleine Mädchen, Alya, das sehr glücklich ist, doch wenige Augenblicke später ist es sehr unglücklich.
Solche Gegensätze sind sicher auch am Ende sehr wichtig, bei dem Kontrast zwischen dem sehr ärmlichen, sehr simplen Haus der Bauernfamilie, das keine Elektrizität hat, und dem Palast, wo man die ganzen Lichter hat, und man sagt sich, das ist doch nicht möglich, dass es solche Gegensätze gibt. Und dennoch kommt es zu dieser Begegnung zweier Welten. Es zeigt auch, welchen Weg diese Familie schlussendlich zurückgelegt hat.


Für die letzte Frage würde ich gerne von Ihnen wissen: Was macht für sie einen guten Film aus, worauf achten Sie bei Ihren eigenen Werken?

Ehrlich gesagt weiss ich nicht, was einen guten Film ausmacht. Man kann erkennen, weshalb ein Film schlecht geworden ist, aber es ist sehr, sehr schwierig zu verstehen, wie man einen guten Film hat schaffen können.
Ich denke, das wichtigste ist, sicher zu gehen, dass man bei dem Film, den man macht, voll und ganz dabei ist. Man muss ihn wirklich machen wollen.
Ob der Film danach ankommt, kann man nicht wissen. Wir haben keine Ahnung, wieso La Maison Jaune auf den Festivals so gut funktioniert. Ich habe Freunde, deren Filme nicht so erfolgreich sind und man kann erkennen, weshalb, weil es irgendwelche Probleme gibt, weil man noch kürzen müsste, weil die Emotionen nicht rüberkommen, etc. Aber im Allgemeinen, wieso ein Film funktioniert, das weiss man nicht.


Herzlichen Dank für das Interview, es war sehr interessant. Und ich will nochmals sagen, dass mir der Film sehr gefällt und dass sie hoffentlich weiterhin viel Erfolg mit ihm haben.

Vielen Dank.



Interview geführt von Gregor Schenker und Jenny Billeter
Der Film läuft am dem 14. August in den Kinos.

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